Jürgen Menten

Spiders from Mars feat. Yvi 

Zwischen Timbuktu und timide*

Eine Annäherung an die Struktur „da oben“ anlässlich der Ausstellung „Spiders on Mars feat. Yvi Jansen“ von Jürgen Menten im kjubh, Köln, eingeladen von Stefan à Wengen

von Gregor Jansen

Jürgen Menten versammelt im Kölner kjubh eine schillernde und etwas surreal, rätselhafte Konstellation diverser Fotografien und Gerätschaften. Wie ein Bühnensetting mit narrativen Qualitäten wird eine zusammenhangvolle, schicksalhafte Chronik zwischen Vergangenheit und Zukunft entworfen. Von Abflugzeiten der Mars-Erde-Shuttle vom Juli 1959 und Entfernungen zwischen Marskratern über drei große Film- bis 48 kleine farbige Porträtprints, sechs wissenschaftlich anmutende Fotografien, skulpturale Gerätschaften, eine Bandmaschine mit Stuhl, Kopfhörer und dem Seewetter, bis zu einem durchscheinenden, farblich veränderten NASA-Foto eines Apollo-Raumkapselfensters und letztlich 2 QR-Codes für ein Mars-Ticket (27. Juli 2021) und Mars Haltestellen im Mai 1959 reicht das Portfolio. 

Auffällig platziert in der Raumflucht bilden die 48 farbigen Porträts mit dazugehörigen Biografien so etwas wie das Zentrum der Aus- und Auf-Stellung. Sie versprühen Charme durch die fröhlichen Hintergrundfarben und ihre pop-artige Angleichung an neutrale Porträtabbildungen klassischer Lexika. Die dazugestellten Texte, unterstützt mit der Welt der künstlichen Welt generiert, geben Einblicke in Das Leben der Anderen (Künstler). Im einem alten Brigadebuch befinden sich in loser Beziehung zu den männlichen Porträts erkenntnisreiche bis skurrile, in unterschiedlichen Sprachen übersetzte Biografien, die im heutigen Ausstellungsbetrieb das reichlich gestreute „Salz in der Suppe“ darstellen. Russische Postkarten ergänzen die chrono-faktische Präsenz der typologischen „Typen“. Herausgelöst aus dem Fußballsammelalbum zur WM 1966 in England, mit dem berühmten Wembley-Tor, stehen uns unterschiedlichste Geschichten vor Augen, die zwischen Realität und Fiktion, zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein einen Graben oder Riss, eine A-förmige Gletscherspalte bilden: sehr tief, von oben jedoch kaum sichtbar. Platon hatte einen Spalt zwischen der materiellen und der immateriellen Welt postuliert, doch ist für Slavoj Žižek die Wahrheit nicht der Bereich hinter dem Spalt, sondern der Riss selbst. Ein Wahrheits-Ereignis ist eine reine Offenbarung, ohne dass etwas offenbart wird. Es ist ein Widerspruch, eine schöpferische Leere. Wahrheit ist eine Art schwarzes Loch, das alles Bestehende in Frage stellt. Sie hat keinerlei positive Substanz, lässt sich nicht in Satz-Aussagen abbilden.

Da wären dann ein kleines, erschrockenes Kind, eine ins Meer stechende Rakete und Nosferatu, aus dem gleichnamigen deutschen Spielfilms Eine Symphonie des Grauens aus dem Jahr 1922 von Friedrich Wilhelm Murnau. Drei Filmstils, drei Momente des Schreckens und der Angst, drei ikonische Bilder. Allen Clayton „Farina“ Hoskins gilt als einer der ersten afroamerikanischen Filmschauspieler überhaupt. Bereits im Alter von zwei Jahren stand er 1922 in One Terrible Day, einer Episode der bekannten Kurzfilm-Serie Our Gang (dt.: Die kleinen Strolche), vor der Kamera. Die Rakete stammt aus einem japanischen Godzilla-Vorläufer und zu Nosferatu wurde viel geschrieben – unsterblich, der Vampir und sein Abbild. 

Die sechs gerahmten, farbigen Fotocollagen sind von Jürgen Menten durch seinen so genannten „analogen Photoshop“ hergestellt, bei dem Bilder mittels Projektion überlagert und neu kompiliert werden. Ein visuelles Sample mit einem ähnlich weiten Referenzfeld aus Geschichte, Mobilität, Wissenschaft, Atomenergie, Luft- und Raumfahrt. Sie entwerfen eine transluzide, transperfide Historizität bei dem Versuch ihre Aussagekraft zu erfassen und strahlen förmlich einen Versuch aus, wie es Christoph Schlingensief einmal formulierte, Unterschwelliges sichtbar zu machen: Das war für den 2010 Verstorbenen eine Weltanschauung, das Prinzip der Mehrfachbelichtung (als Ästhetik des Zweifelns). Menten verfährt ebenfalls nach diesem Prinzip, hier und wenn es weiter zu den kühl-eleganten Betongüssen von einer Radioabdeckung und einem Plattenteller plus Platte geht, Untertitel: Boaz Disco! Weitere Elemente spielen mit dem Namen Salo und wie im Titel des Gesamten „feat. Yvi Jansen“ erscheint, hören wir die Seewetterangaben des Deutschen Wetterdienstes, gesprochen von der jüngst Köln verlassenen Schauspielerin Yvon Jansen. So weit, so schön – abgefahren und verstörend.

Möchte man Licht ins Dunkel bringen, das Wahrheits-Ereignis als reine Offenbarung, ohne dass etwas offenbart wird, anerkennen, hilft ein Buch, ein Roman aus dem Jahre 1959 mit dem Titel „Die Sirenen des Titan“. Es stammt von Kurz Vonnegut, behandelt enorm gewichtige philosophische Themen wie der freie Wille des Menschen, der Sinn des Lebens, die Gleichgültigkeit Gottes und die Entstehung des Universums. Durch die direkte – und in Teilen recht robuste – Bearbeitung dieser Themen verschleiert er jedoch einiges, was erst bei der Reflexion deutlich wird. Vonnegut lebte mit den „Sirenen“ vor seiner Zeit: Science-Fiction war in den 1950er Jahren kein beliebtes oder angesehenes Genre. Erst nach dem Erfolg von „Schlachthof 5“ (1969) wurde Vonnegut berühmt, und es erschien die erste deutschsprachige Übersetzung der „Sirenen“ von Harry Rowohlt. 

Worum geht es also? Zwischen den Materialisierungen des gotthaften Winston Niles Rumfoord in seinem Haus in Newport, Rhode Island; dem reichsten Amerikaner Malachi Constant, der den Planeten Erde bald nach seinem Treffen mit Rumfoord verlassen muss, da dieser im Infundibulum gefangen ist, in die Zukunft sehen kann und Constants Schicksal ankündigt; einem Krieg zwischen Mars und Erde, der unerwartet ausgeht, und makaber-schrägen Aufenthalten auf dem Merkur und dem Titan, bleibt das Tun und Treiben auf dem Planeten Tralfamadore in Erinnerung, dessen Schicksal nur auf zwei Seiten geschildert wird und dem Werdegang der Menschheit doch auf so eine gruslig-treffende Art und Weise ähnelt, dass schon anhand dieser Passage die Schärfe und Treffsicherheit von Vonneguts Satire klar werden. Denn die Geschichte zwischen den Zeilen erzählt viel über die menschliche Natur, über die beängstigende Nichtigkeit unserer Existenz – und darüber, wie lächerlich und zugleich notwendig das Konzept von Göttern und Religion für unsere Psyche ist. Boaz und Salo sind ebenfalls wichtige Protagonisten in dieser Odyssee durch die Galaxis: Boaz, ein manipulativer, gemeiner Schuft und Salo, ein einsamer, hilfloser Außerirdischer, der eigentlich eine Maschine ist. Malachi Constant ähnelt wiederum Elon Musk mit seinen Marsidiotien, zugleich an die zahllosen Antennen seines SpaceX Irrsinns, die rasant „da oben“ zwischen Himmel und Erde kreisen.  

Indem Jürgen Menten mit dieser Ausstellung ein figurenloses Panoptikum der zeitlosen Absurdität menschlicher Denkleistung auf den unterschiedlichen Ebenen ausbreitet, fährt er tief hinab in das Unterbewusstsein dieser Spezies, bleibt zugleich intelligent zweifelnd an der Ebene der DJ-Kultur haften, die bekanntlich zahlreiche Verfahren der Cut-up Technik, der gezielten oder konzeptionellen Zufallsmontage verwendet. Das Verfahren, das Collagetechniken der Bildenden Kunst adaptierte, wurde in den späten 1950er Jahren in der Avantgarde- und Beat-Literatur durchgespielt. Zugleich sind die Allusionen in Gegenwart und Zukunft nicht weniger radikal aufpoppend. Die aktuelle US-Regierung, Krieg in der Ukraine und im Gazastreifen, die AfD, Aufrüstungsgelüste oder der südafrikanisch-kanadisch-US-amerikanische Unternehmer und reichste-Mann-der-Welt-Irrlicht, eine Welt voll mit Narzissten macht wenig Spaß, oder nur wenigen. Die Ausstellung „Spiders on Mars feat. Ivi Jansen“ von Jürgen Menten im kjubh, Köln, eingeladen von Stephan à Wengen macht uns Empfinden, Denken, Fühlen und Intuieren – nichtsdestotrotz der angespannten Lage ästhetische Freude und weckt das synaptisch-sinnliche Vermögen, auch das Gute erwarten zu dürfen. Zwischen Timbuktu und timide ist reichlich Platz, doch Zeit ist punktuell, relativ oder auch ein Gefühl, lassen wir es zu. Denn Zeit ist kein Begriff, sondern eine Form der Anschauung. Treten wir ein.

*Der Titel beruht auf dem Umstand, dass sich alle Wörter zwischen Timbuktu und timide in sehr kleinen Lexika auf time, die Zeit beziehen; aus dem Buch: „Die Sirenen des Titan“ von Kurt Vonnegut, München 2023 (Original: The Sirens of Titan, 1959)