13. April – 18. Mai 2024
Only metaphors of acting – Nadine Schemmann
eingeladen von Dr. Anika Gebauer-Aulbach & Jürgen Menten
NADINE SCHEMMANN – Alles offengelegt
Von Nadine Schemmanns Leinwänden geht für diejenigen, die sich darauf einlassen, eine spürbare
Intensität aus. Es sind Werke, die sich den Betrachter:innen mit reduzierten Mitteln auf der Ebene des
Sinnlichen bemächtigen und sie mit ihren, auf den rohen Leinen gerinnenden eleganten Farbwolken und
schwebenden Formen unmittelbar einnehmen. Wässrige Kompositionen wie Yesterday’s spring from above
(2023) und It is all for real (2019/2020) lassen sich wie Standbilder begreifen, wie ein Anhalten im endlosen
Prozess des Werdens. Momente, die man mit einem einzigen Atemzug aufsaugen kann; oder denen man Tür
und Tor öffnet, bis sich das Innere damit vollgesogen hat.
Im Zuge ihrer vergleichsweise dramatischen Entstehung – unter Einsatz von Schutzmasken, in Phasen
dräuender Einsamkeit und Abschottung, in intensiver körperlicher Auseinandersetzung und, vor allem, dank
beinahe blinden Vertrauens – vollzieht sich auf Schemmanns Leinenfeldern ein alchemistischer Prozess. Es
kommt zu einer umfassenden Transformation. Über diese Arbeiten zu sprechen heißt, an der Unterscheidung
zwischen einem gemalten Bild und einem Gemälde und den entsprechenden konstituierenden Elementen
anzusetzen, also bei Textur und Ton des Malgrunds aus belgischen Leinen. Schemmann beginnt mit dem
Bleichen, dann hängt sie die Leinwände zum Trocknen auf. In einem nächsten Schritt trägt sie nun verdünnte
Pigmente auf. Hier nun kommt die Chemie ins Spiel, gewagte Entscheidungen stehen an, Veränderungen, die
sich nicht rückgängig machen lassen und die in Resultaten münden, die nicht planbar sind. Dabei hat man es
stets mit eine Art abstrakter Intimität zu tun, hervorgerufen von Formen, die miteinander konkurrieren, sich
berühren, die zusammenkommen und in Bewegung stehen. Das ist schwere körperliche Arbeit. Färben, reiben,
sprühen, einweichen sind die richtigen Begriffe für eine Beschreibung von Schemmanns Verfahren. Es geht
darum, mit dem Material zu sprechen und ein Verhältnis zu finden, das Liebe ebenso beinhaltet wie Zwang.
Im Verlauf dieser Prozesse verschränken sich privates Handeln und Sinngehalt miteinander und bringen sich
gegenseitig hervor. Für die Künstlerin dreht sich dabei alles um „die Handhabe des Materials und darum, aus
etwas, das man kennt, etwas zu entwickeln, das man noch nicht gesehen hat.“*
Für uns bleiben von diesem geheimnisvollen Prozess wogende Formen in der bevorzugten Palette
Schemmanns zurück. Tiefe, gesättigte Rot- und Blautöne übernehmen (interessanterweise wie in der
Renaissance-Malerei) die Hauptrolle, dazu kommen optimistische Passagen in frühlingshaftem Grün,
unterbrochen von Gelbspritzern und vielen anderen Tönen und Schattierungen. Doch Schemmann ist nicht
nur Malerin, sondern auch Bildhauerin. Die Leinen stellen den gemeinsamen Nenner ihrer Praxis dar. Hier
treffen sich beide Disziplinen, teilen sich Träger, Nähte und strahlenden Farben. Schemmanns Gemälde und
Skulpturen nehmen bisweilen raumfüllende Ausmaße an, dehnen sich in alle Richtungen aus, um existieren zu
können, um etwas zu vermitteln, um zu sein. Ihr Skulpturen hängen normalerweise in Klumpen von der
Decke, bilden improvisierte Raumtrenner oder höhlenartige theatrale Tropfen. In letzter Zeit finden aber auch
Knoten und andere organische Formen ihren Weg nach draußen aus dem Atelier. Viele von Schemmanns
jüngeren Gemälden nehmen indes Ausmaße an, die sich mit den Armen nicht mehr fassen lassen und die
meisten von uns um mehrere Köpfe überragen, um so eine unmittelbare Ganzkörpererfahrung zu
ermöglichen. In ihren Einzelausstellungen kombiniert Schemmann zunehmend Malerei und Skulptur und
schafft mit entfesselten Stoffen und Farben immersive Einvironments. Das Verkörpert-Sein, das hier sichtbar
wird, spiegelt sich auch in den fleischlichen, organartigen Formen in ihrem Werk wider, direkter vielleicht noch
in der blutroten Farbe, der man in einigen von Schemmanns Kompositionen begegnet. Darauf hinzuweisen,
dass diese körperlichen Entsprechungen und die Nacktheit einen schwelgenden Erotizismus kommunizieren,
wäre fast zu offensichtlich zu erwähnen. Es ist eine Sinnlichkeit, hervorgerufen von Assoziationen mit
Körperflüssigkeiten, mit dem Erröten aus Scham, mit einem bestimmten orgasmischen Gefühl und dem
amorphen Verschmelzen von Tönen und Elementen.
Mich interessieren vor allem die ästhetischen Manöver in den Werken Schemmanns, die auch dann
noch funktionieren, wenn man sich in eine nüchterne Distanz zu ihrer unmittelbaren sinnlichen und
schwindelerregenden Nähe begibt. Da sind ihre beeindruckenden technischen Fähigkeiten (verfeinert über
Jahre – Schemmanns Arbeiten sehen in der Tat betörend einfach aus!), mit denen es ihr gelingt, ihren Arbeiten
ein schamloses Bekenntnis an die die nach wie vor geltende Authentizität solcher Mittel des direkten
Ausdrucks mit auf den Weg zu geben, ebenso aber die Durchschlagskraft einer gemeinsamen Erfahrung, die
mit ihnen ermöglicht wird. Ebenso kompromisslos: Schemmanns Arbeiten verstecken sich vor niemandem –
und scheinen dennoch, dahinter oder darin verborgen, natürliche, kosmische und persönliche Geheimnisse
heraufzubeschwören. Jede Textur, jeder Übergang, der Rand, jede Grenze, der Fluss, die Nähte – alles ist
sichtbar und auf eine Art mit Bedeutung aufgeladen. Alles wird hier offengelegt, wird als verletzlich gezeigt,
ungeschützt. In der Betrachtung ist das nicht immer nur angenehm. Ja, mich überzeugen unter den bislang
entstandenen Arbeiten Schemmanns oft genug gerade diejenigen, die auf eine Art aus dem Gleichgewicht zu
laufen scheinen und hier und da fast mit der Hässlichkeit flirten. Kompositionen, die Gefahr laufen, vom Kurs
abzukommen und ins Unkontrollierbare abzugleiten, oder auch nur solche, die mit unansehnlichen Flecken
aufwarten, die der Dunkelheit, der Unreinheit, der Beschädigung und Reparatur Tür und Tor öffnen und aus
denen eine seltsame Mischung aus Furcht und Respektlosigkeit spricht. Auf eine Bemerkung in diese Richtung
sagt Schemmann beim Studiobesuch nachdenklich: „Stimmt. Diese Stimmung, dieses stärkere Eintauchen ins
Chaos, das Hinüberwechseln auf die dunklere Seite, das findet sich schon im Titel meiner kommenden
Ausstellung bei Norbert Arns, ‚Behind flying fields‘. Man kann in meiner Arbeit Schönheit und Poesie
entdecken, aber dann merkt man vielleicht erst zu spät, dass man von den Dämonen verschluckt wird.“
Schemmanns Arbeiten ermutigen ihre Betrachter:innen zur freien Assoziation. So großzügig wie nur
möglich öffnen sie sich der Interpretation, auch wenn es längst nicht alle als angenehm empfinden, sich selbst
Gedanken machen zu müssen. Denn das bedeutet Aufwand: In Assoziationen denken, alles kommt von
irgendwo, und dieses Ursprüngliche, ebenso bekannt wie unbekannt. Schemmann selbst kam erst über
Umwege zur bildenden Kunst, über ein Studium in Design und Illustration, ein Feld, auf dem sie durchaus
erfolgreich war. All diese Jahre machte sie ihre Kunst heimlich und nebenzu, bis diese begann, mehr und mehr
Raum einzufordern. Beim Atelierbesuch geht Schemmann noch weiter in die Vergangenheit zurück und
erzählt, dass sie sich in Kindertagen an Begegnungen mit Menschen, an Situationen und Beziehungen in Form
lebendiger Farbarrangements erinnerte. Und dass ihr zweifelsohne wohlgesonnenen Eltern, die einen
Blumenladen betrieben, der Meinung waren, sie solle das besser nicht zu sehr herumerzählen. Als junge
Künstlerin erinnerte sie sich daran, wie es war, von Blumen umgeben zu sein und im Großmarkt schon früh
deren unterschiedliche Qualitäten schätzen zu lernen. Erinnerung ist, wie die Kunst, ist eine
Beschwörungsformel.
Man braucht einen gewissen Mut, um derart weit ausgreifende Arbeiten zu machen, sich in die
Bastionen der Abstraktion vorzuwagen. Es gab eine Zeit, in der ein entsprechend suggestives Bildermachen
wie es um die Mitte des 20. Jahrhunderts herum beispielsweise der Modernismus betrieb, theoretisch suspekt
war (auch wenn es niemals verschwand). (Zu universalistisch ausgerichtet und insofern ausschließend, zu
pathosgeladen, zu bürgerlich, zu sehr status quo, zu metaphysisch in einer politischen Welt, zu vermarktbar, es
sei denn, man lädt es mit einer ironischen Distanzierung auf oder versieht es mit einem zusätzlichen Verweis
auf ein gesellschaftliches Anliegen.) Aber die Zeiten haben sich einmal mehr geändert. Der Bedarf an
spekulativer, ambivalenter, die Hand ausstreckender, sanfter, einfühlsamer und affirmativer Reflexion auf das
Dasein ist groß. Und schließlich sind es ja nicht die Formen selbst (wie die abstrakte Malerei, der Roman, das
Filmemachen), die suspekt werden, aus der Mode kommen oder als politisch rückwärtsgewandt erscheinen,
sondern bestimmte Protagonist:innen und Kontexte sowie die Glaubenssysteme, in ihnen unterliegen. So oder
so, im Verlauf der letzten Jahrzehnte hat die Speerspitze der Kunstgeschichte den malerischen Kanon
aufgebrochen und weit aufgefächert. Die Geschichte der modernen Abstraktion entspringt nun aus
alternativen Quellen wie etwa theosophischen Gesellschaften oder beginnt mit außergewöhnlich farbenfrohen
Spiritualistinnen (so nachzulesen etwa im 2023 veröffentlichten Buch „The Other Side“ der Kunstkritikerin
Jennifer Higgie).
Die Tatsache, dass sich eine Künstlerin wie Schemmann also weniger von den späteren Größen des
Abstrakten Expressionismus der 1950er-Jahre inspiriert fühlt, sondern zunächst einmal eine Verwandtschaft
mit den Avantgarde-Choreografien, den Kostümen und der Bühnengestaltung der expressionistischen
Tänzerin Loïe Fuller empfindet, sollte also nicht länger überraschen. Noch sollte es ein Nachdenken über
Schemanns Arbeit in Bezug auf eine Linie sensorischer Abstraktion und prozessbasierter Skulptur, in welcher
der Einfluss und das Erbe von Künstler:innen wie Georgia O’Keeffe, Eva Hesse, oder, etwas später, der
britischen Bildhauerin Phyllida Barlow hochgehalten wird. Ich denke hier an eine Welt, in der die seltsamsten
Gedanken einer Lucy Lippard schneller zur Hand sind als die Dogmen eines Clement Greenberg. Aber: Hat
man diesen Gedanken einmal gefasst, kommt Schemmann sofort mit einem Geständnis: „Als ich 18 war, hatte
ich diese seltsame Begegnung mit einem der roten Gemälde Mark Rothkos. Ich weinte. Ich wusste nicht viel
über Kunst oder über Rothko. Ein paar Jahre erfuhr ich dann, dass es genau das war, was er wollte.“ Die
jüngste Kunstgeschichte ist am Ende eben doch weit stärker miteinander verwoben, persönlicher und
unendlich weiter gefasst und diverser als bislang gedacht. Und angesichts der Arbeiten von Nadine
Schemmann vermute ich, dass wir auch weiterhin aufblühen, dass wir Dinge miteinander vernähen, unsere
Zelte aufschlagen und sie auch wieder abbauen, dass wir uns entfalten, uns offenbaren, dass wir den Schleier
lüften, nicht vor unseren Wunden zurückschrecken, die Höhlen nicht fürchten und dass wir uns in allen
Farben des Regenbogens erinnern. – Dominic Eichler, Frühjahr 2024.
* Alle Zitate stammen aus einer E-Mail-Korrespondenz mit der Künstlerin im März 2024.